Dienstag, 14. Dezember 2010

Hirschkuh der Frühe

Letztens bin ich mal wieder auf ein kurioses Druckerzeugnis gestoßen, namentlich auf das Buch „Rock-, Pop- und Technomusik und ihre Wirkungen“ von Adolf Graul. Herr Graul findet moderne christliche Musik scheiße und trägt deswegen die beiden folgenden Hauptargumente vor: Erstens lenke Radaumusik vom Text eines Liedes ab, und das gefalle Gott nicht. Zweitens mache Radaumusik aggressiv, und das gefalle Gott nicht.

Als meine Oma noch lebte, da sagte sie häufig mit einem Kopfschütteln: „Die Geschmäcker sind eben verschieden.“ Der Spruch kam immer dann, wenn sie etwas scheußlich fand, wie zum Beispiel das Loch am Knie in meiner Hose. Aber wenigstens wusste Oma, dass es nicht möglich ist, den Geschmack anderer mithilfe von Argumenten zu verändern. Das ist bei Herrn Graul scheinbar anders. Auch seine Thesen sind durch seinen persönlichen Geschmack bedingt. In seinem Buch trägt er eine Ansammlung von Behauptungen zusammen, die seine Vorliebe unterstützen. Reichlich selbstbewusst wirkt deshalb der Untertitel des Werks: „Eine wissenschaftliche und biblische Untersuchung.“ Denn das erzeugt den Eindruck, als könne und dürfe man zu diesem Thema gar nicht ernsthaft eine andere Ansicht vertreten. Doch das ist natürlich Quatsch.

Ich selbst beispielsweise mag sehr gerne Punk-Rock, und ich freue mich darüber, wenn Menschen das, was ihnen wichtig ist (wie etwa ihren Glauben) in solchen Liedern ausdrücken. Das ist mein persönlicher Geschmack, und ich werde nicht versuchen, ihn unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit als allgemeingültig zu verkaufen. Interessant finde ich dabei aber den folgenden Gesichtspunkt:

Ein berühmter Liedtext in der Bibel, Psalm 22, beginnt mit einer merkwürdigen und nicht ganz leicht zu übersetzenden Anweisung für die musikalische Gestaltung. Dort heißt es:
Nach „Hirschkuh der Frühe“
Hier handelt es sich um die Angabe der Melodie. Offensichtlich gab es im antiken Israel ein bekanntes Lied mit dem Titel „Hirschkuh der Frühe“. Der Psalm-Dichter nimmt sich diese Melodie und denkt sich einen frommen Text aus, der jetzt auf die berühmte Melodie gesungen werden soll. Ganz ähnlich hat auch der große Theologe Martin Luther einige seiner Kirchenlieder getextet. Aus dem in seiner Zeit bekannten Volkslied „Innsbruck, ich muss dich lassen“ macht er „O Welt, ich muss dich lassen“, und singt darin über das ewige Leben und über Gott, der das Leben der Menschen in seiner Hand hält.

Sowohl der Psalmist als auch Luther kennen sich bei den Schlagern ihrer Zeit gut aus. Sie benutzen diese Musik, um durch sie ihrem Glauben Ausdruck zu verleihen. Vermutlich haben sich auch einige ihrer Zeitgenossen darüber empört, denn neumodische Ideen ecken immer an. Ich gehe davon aus, dass die Menschen schon in guten 100 Jahren den Punk-Rock unserer Zeit als altmodisches und zahmes Gedudel empfinden werden. Dafür wird es dann andere viel krassere Musikrichtungen geben. Manche Christinnen und Christen werden diese Musik befürworten und sich darüber mit denen in die Haare kriegen, die solche Musik ablehnen. Die Hirschkuh der Frühe jedoch wird das bunte Treiben über die Jahrhunderte mitverfolgen und gnädig schmunzeln. Gott vermutlich auch.

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